Brief an Putin
Sehr geehrter Herr Präsident,.....
Wien, am 12. August 2022
An Herrn
Wladimir Wladimirowitsch Putin
Präsident der russischen föderativen Republik
Senatspalast Moskau, Kreml
http://en.letters.kremlin.ru/letters/send
Sehr geehrter Herr Präsident, ???????? ?????!
Sie werden diesen Brief höchstwahrscheinlich nie zu Gesicht bekommen. Dennoch verfasse ich ihn, um meinen zweieinhalb Millionen Lesern in Österreich zu vermitteln, welche persönliche Erlebnisse mich zur Einschätzung der Tragödie in der Ukraine veranlassen. Zuletzt findet sich ein Vorschlag, wie Sie den schrecklichen Geschehnissen ein Ende machen könnten. Sollte dieser Versuch nicht fruchten, hätten Sie dennoch einen guten Teil der großen Schuld von Ihren Schultern gewälzt, die Sie auf sich nahmen, als sie auf die vielen Demütigungen durch den Westen so katastrophal überreagierten.
Als ich die erste Klasse der Volksschule besuchte, erwartete ich stets gespannt den Tag, da ein russischer Soldat in der Schule erschien und uns Kinder im Gänsemarsch in das nahegelegene Kino geleitete. Dort sahen wir gespannt die Geschichten von der Hexe Baba Jaga, dem Starken Wanja auf dem Ofen, Finis, dem Falter und die Legenden von den Heldentaten der russischen Armee. Etwa zur selben Zeit ging meine Oma manchmal mit mir zum Bahnhof. Sie musterte die abgehärmten Gestalten, die aus dem Heimkehrerzug quollen, ob nicht ihr in Russland vermisster Sohn aus der Masse der grauen Gestalten auftauchen würde. Als die Freudenschreie und Umarmungen abebbten und langsam verstummten, seufzte die Oma, ergriff meine Hand und murmelte leise: „Nächstes mal ist er sicher dabei“. Dann wanderten wir nach Hause. Er ist in Stalingrad geblieben, der Onkel Hans.
Jahrzehnte später landete ich als Projektleiter einer Weltraumsimulationskammer für ein russisches Institut auf dem Flughafen Sheremetyevo. Der kleine rote Stern auf der Kappe des Soldaten am Zoll sah genauso aus wie auf jener unseres Begleiters ins Kino, 1955. Nebenher las ich alle wesentlichen Werke der russischen Romanciers, von Tolstoi über Puschkin und Dostojewski bis zu Solschenizyn. Dorther stammt meine Zuneigung zu der unergründlichen, romantischen, gefühligen, grausamen und nicht selten verrückten russischen Gemütsart. Wer den schwermütigen orthodoxen Chorälen, den übermütigen Tänzen und Volksliedern lauscht, erfährt einen Hauch von der Tiefe dieses oft geschundenen, gemütvollen, opferbereiten und nie besiegten Volkes. Millionen von Invasoren, aufgestachelt von Napoleon und Hitler, vermochten es nicht in die Knie zu zwingen.
Die sorgfältig ausgekundschaftete jüngere Geschichte der Ukraine lehrte mich, dass die USA dieses strategisch und agrarwirtschaftlich hochwichtige Land näher an die NATO heranbringen wollten und dabei zum Teil fragwürdige Methoden anwendeten. Die Führer der westlichen Staaten „vergaßen“ die Versprechungen, welche man einst Herrn Gorbatschow machte, niemals einen Beitritt der Ukraine zur NATO zu veranlassen. Daneben ist es meiner Aufmerksamkeit keineswegs entgangen, dass die Russische föderative Republik etliche selbständige Staaten, welche früher Bestandteil der UdSSR waren, teils unter Anwendung von Gewalt widerrechtlich unter Kontrolle brachte.
Dieser Prozess erreichte einen Höhepunkt, als die Krim 2014 völkerrechtswidrig annektiert wurde. Dass die wichtigsten Städte der schönen Halbinsel einst vom Russen Grigori Potemkin gegründet wurden, die russische Literatur von den Ferien–Lust– und Hochzeitsreisen russischer Liebespaare, Verlobungsreisender und Ehebrecher strotzt, ist ein unwiderlegbares Zeichen für die lange Verbundenheit dieser einst osmanischen Halbinsel im Schwarzen Meer mit Russland. All das weiß ich und es spaltet mich in der Beurteilung des Unheils, das Ihr Krieg derzeit über die gepeinigten, teils fehlgeleiteten Ukrainer und Ihr eigenes Volk bringt.
Als seinerzeit Verantwortlicher für tausende Menschen grübelt man klarerweise darüber, wie man aus einem scheinbar ausweglosen Labyrinth herausfinden kann. Wenn nicht einer der großen Spieler den Anfang macht, wird sich die Spirale der Gewalt weiterdrehen. Die weit reichenden Waffen, welche die USA liefern, erreichen bereits Ziele jenseits der Front, bis hin zur Krim und der russischen Grenze. Das wiederum wird Ihre Generäle dazu veranlassen, den Krieg in die Mitte der Ukraine zu tragen und Kiew samt anderen Großstädten zu bombardieren. Tod und Zerstörung werden ein ungeahntes Ausmaß erreichen, desgleichen der Zorn der Betroffenen. Wohin dies dann führt, vermag heutzutage niemand zu sagen. Die Ansicht, Russland, würde früher oder später NATO-Länder an seinen Grenzen angreifen, halte ich freilich für paranoid: Einen derartigen selbstmörderischen Anlass zu einem Weltkrieg werden Sie nicht geben.
Kann das alles zusammen im Interesse des russischen Volkes sein, für welches Sie junge Männer Soldaten zu Kampf und Tod in die Ukraine schicken? Ich glaube nicht. Springen Sie über Ihren Schatten! Machen Sie dem Westen ein Angebot mit Augenmaß, das auch die Ukrainer nicht ablehnen können, ohne sich den Unmut und das Unverständnis all jener zuziehen, welche des Krieges, der Sanktionen, der Gasknappheit und Preisexplosion längst überdrüssig sind! Einer solchen Initiative und der in Europa dadurch ausgelösten Bewegung werden sich auch die Ukrainer, wenn auch zähneknirschend, nicht verschließen können.
Nur zu! Jenseits des eigenen Schattens liegt die wahre Größe eines Mannes.
Ich verbleibe mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochachtung
Dipl. Ing. Dr. mont. Klaus Woltron
woltron@woltron.com