Europa — Ein Rückzug
Dieser Beitrag will sachlich und objektiv sein. Er wurde dennoch pessimistisch. Wer in fröhlichem Zweckoptimismus verharren will, tut daher gut daran, nicht weiterzulesen.
Der Autor ist während seines schon längeren Aufenthalt auf dem Erdenrund mehrfach in den zweifelhaften Genuss gekommen, Zusammenbrüche großer Institutionen von innen zu erleben — und er hat sich in seinen Prognosen derselben bis heute leider niemals getäuscht. Deshalb sieht er den Lauf der Dinge skeptisch. Es wäre zu hoffen, dass er diesmal irrt — denn die Sache ist ernst: Res ad triarios venit, wie die alten Römer sagten: Das Gefecht stößt an die letzte Schlachtreihe.
EU im Sturm
In den letzten Monaten hat sich in Europa eines mit aller Deutlichkeit gezeigt: Die Europäische Union beziehungsweise ihre Mitgliedsstaaten sind nicht in der Lage, auch nur eines der wirklich existentiellen Probleme dieses Kontinents zu lösen. Dies liegt einerseits in einer erstaunlichen kollektiven Blindheit, was das Vorhersehen leicht fasslicher Entwicklungen anlangt, und, andererseits, im Umstand begründet, dass die Dompteure in Brüssel, in Ermangelung einer wirkungsvollen Peitsche — und auch des dazugehörigen Mutes — nicht imstande sind, den Zirkus heillos durcheinanderstürmender Pferde zu ordnen. Stattdessen obwaltet ein hektisches Regime per Notsitzungen und — Verordnungen und das Versäumen jeglicher Frist im schicksalhaft dahinjagenden Geschehen. Bevor ich zu der im Titel angedeuteten betrüblichen Schlussfolgerung gelange, seien noch einige einleitende Überlegungen gestattet.
Zentralisierung bis zur Lähmung Hätte die EU eine gemeinsame Feuerwehr für alle Mitglieder eingerichtet, wäre seit ihrem Bestehen kein einziger Brand gelöscht worden: Anlässlich des Ausbruchs eines Feuers hätten die im Fall der Fälle hastig eingeflogenen Staatsoberhäupter lediglich über noch rauchende Ruinen gegrübelt, während die aufgelösten und nunmehr einem zentralen Kommando unterstehenden lokalen Kräfte tatenlos dem Niederbrennen zusehen hätten müssen. Analoges geschieht derzeit im Zusammenhang mit der Völkerwanderung, die seit dem Beginn der Auseinandersetzungen im Mittleren Osten seit Jahren abzusehen war: Die gefeierte Abschaffung der gemeinsamen Grenzen, ersetzt vom nunmehr wirkungslosen Schengen — Popanz, mündete in ein Chaos sperrangelweit offener unkontrollierter Grenzen, welches kein einziger anderer Staatenverbund auch nur ansatzweise akzeptieren würde. Überall würde man die für Derartiges Verantwortlichen schnellstens davonjagen. Nicht so in Europa: Dort beginnt man sowohl über Ursache, Folgen, Schuldige, Maßnahmen und Kosten zustreiten, ohne in der Sache selbst auch nur im Geringsten bis zu den Wurzeln des — geschichtliche Dimensionen annehmenden — Problems vorzudringen. In der Not frisst der weltweit missionierende europäische Tugendengel EU dann Fliegen: Man wendet sich an einen Despoten außerhalb der EU, der deren Impotenz per Bezahlung von Schutzgeld ausgleichen soll, wie weiland ein Mafia — Pate. Dies möge dann die hehre Tatsache, dass die sogenannten europäischen Werte selbstbewusst weiterhin in alle Länder hinausgetragen werden, in originellster Weise begründen.
Gipfel ohne Siege
Einer der vielen hastig einberufenen Gipfel der Hilflosigkeit (am 26. Oktober 2015) gebar eine eindrucksvolle Einigung auf folgende himmelsstürmenden Maßnahmen:
Insgesamt sollen 100.000 Flüchtlingsunterkünfte geschaffen werden, davon 50.000 in Griechenland, weitere 50.000 entlang der Westbalkanroute, und die Organisation Frontex soll die Grenzen besser schützen.
Während diese bombastischen Ankündigungen — Jahre, nachdem die Flüchtlingskrise nur allzu deutlich abzusehen war, und viele Monate nach einem Zustrom, der 2015 mindestens 1,5 Mio Muslime, teilweise völlig unbekannter Herkunft, nach Deutschland bringen wird — jüngst von den versammelten Häuptlingen der EU — Staaten verbreitet wurden, stauten sich an einem einzigen Tag in Slowenien wieder mehr als 7500 Flüchtlinge. Eine einfache Kopfrechnung ergibt, dass die Wirksamkeit der Maßnahmen nach vier Wochen wiederum verpufft sein wird, nachdem, frühestens in etwa einem Monat, die Ankündigung ins Werk gesetzt ist. Immerhin hat man dann eine kurze Atempause gewonnen. Ein Ende des Nachschubs ist allerdings nicht abzusehen, wirksame Maßnahmen, ihn zu begrenzen, erst recht nicht.
Währung als Prokrustesbett
Auch die traurigen Folgen der Einheits-Währung Euro wurden, trotz vielfacher Warnungen Wissender, nicht vorhergesehen. Ein Bailout, eine Rettungs-„Beschirmung“ folgt daher, als Reparaturprogramm, dem anderen, hunderte Milliarden werden der Forschung und Entwicklung, der Ausbildung der Jungen, entzogen und in Pleiteprojekte sowie ins Spielkapital von Spekulanten investiert. Sogar der Paradeökonom der Linken, Iannis Varoufakis, hält das Projekt, im Einklang mit Hans — Werner — Sinn, für gescheitert (was nicht heißen soll, dass seine verqueren Ansichten deshalb im Ganzen ernst genommen werden können). Die Folge: Die Arbeitslosigkeit steigt, die Patentbilanz stagniert, die Einkommensschere öffnet sich weiter. Das hehre Projekt „Europa an die Spitze!“ wird international nur mehr belächelt. Auch auf dem Gebiet der Außenpolitik ist wenig Ruhm geerntet worden: Die auf Geheiß der USA begonnene, für die europäische Wirtschaft höchst schmerzliche, Boykott-Strategie gegenüber Russland ist wirkungslos verpufft: Die Ukraine ist mittlerweile ein insolventes Wrack und gefährdet die europäische Stabilität über Jahre hinaus.
Verhöhnung des Bürgers
Der neue EU-Kommissionspräsident erläuterte seinerzeit sein Verständnis der gemeinsamen Europäischen Grundwerte vermittels launiger Bekenntnisse:
„Wenn es ernst wird, muss man lügen.“
Wenn es ernst wurde, brach man tatsächlich alle Verträge, welche als Säulen der neu gegründeten Staatengemeinschaft gepriesen und den Wählern versprochen worden waren: Feste Außengrenzen, freier Personenverkehr, eine stabile harte Währung, keine teure Rettung von klammen Mitgliedsstaaten, einen Aufschwung bei Forschung, Entwicklung und Ausbildung, ein Überflügeln anderer Kontinente bei der Arbeitsplatzsicherung, eine mächtige gemeinsame Verteidigungskraft — eigentlich alles, mit Ausnahme eines besseren Wetters. Dies zu versprechen verkniff man sich offensichtlich im letzten Moment.
„Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, ob was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter.“
Dieser löbliche Grundsatz wurde, unter beachtlicher Geringschätzung der Intelligenz des Wählers und dessen offensichtlicher Verachtung, insbesondere im Zuge der diversen Rettungsschirme und der Verdünnung des Geldwerts hinterlistig ins Werk gesetzt. Aber nicht nur: Man bleibt dem Grundsatz treu. In einer weiteren Sentenz findet sich allerdings ein fundamentaler Irrtum:
„Europa findet immer nur durch Krisen zu mehr Integration.“
Die zahlreichen offensichtlichen Krisen haben zu tiefgreifenden Zweifeln des Bürgers an der Sinnfälligkeit betreffend die Unfähigkeit der EU zur Lösung wirklicher Probleme, jenseits von Glühbirnen, Gurken, Ölkännchen und grenzüberschreitenden Telefontarifen, geführt. Inwieweit die beginnende Selbstauflösung der EU schnell oder qualvoll langsam erfolgen wird, ist derzeit, inmitten eines totalen Umbruchs, schwer zu sagen. Sie ist auf dem besten Wege, weiter fortzuschreiten. Die Ursachen dafür sind nicht, wie früher vermutet, nur der umstrittenen Verteilung knapper Mittel zuzuschreiben. (Angesichts der schweren Auseinandersetzungen im Zuge der Griechenland-„Rettung“ zwischen Nord und Süd war zu befürchten, dass allein dies die EU bereits spalten könnte.) Der drohende de-facto-Zusammenbruch, ob offiziell oder virtuell, hat viele Ursachen. Es handelt sich um ein multiples Organversagen.
Einen morschen Stamm kann und muß man nicht spalten — er zerbröselt von selbst.
In mehreren Beiträgen ist der Autor einzelnen Fragen im Zusammenhang mit der Causa prima, unter Nutzung vieler verfügbarer Quellen, vor allem aber des einfachen Hausverstands, nachgegangen- niemandem verpflichtet als dem Gesichtspunkt höchstmöglicher Faktentreue und Objektivität. Immer mehr verdichtete sich dabei die Gewissheit, dass die EU, ihre Exponenten und die Einzelstaaten die Völkerwanderung, begleitet von anderen geschilderten Misslichkeiten, nicht ohne schwerste, lang anhaltende Krisen bewältigen werden. Diese werden sich im folgenden Umfeld zutragen:
- Der Nahe und Mittlere Osten werden weiter destabilisiert.
- Millionen Schwarzafrikaner drängen an das das Mittelmeer.
- Keine der Quellen von Elend und Wanderung wird, zumindest mittelfristig, daher versiegen.
- Die von der EU gesetzten Maßnahmen werden den Strom der Flüchtlinge nicht nachhaltig bremsen. Dazu ist sie politisch, militärisch und wirtschaftlich zu schwach, unentschlossen und zersplittert. Er wird über Jahre hinweg weiter anhalten.
- Viele europäische Staaten bereiten, unter dem Druck ihrer verängstigten Bürger, Verschärfungen der Schengen-Regeln oder Einzäunungen ihrer kritischen Grenzbereiche vor.
- In Deutschland revoltiert die Bevölkerung ganz offen gegen die von Realitätsverlust geschlagene „Asylkanzlerin“ Angela Merkel.
- Die Verzweiflung und Unzufriedenheit der von der nüchternen Realität des Asyls frustrierten Zuwanderer, in Verbindung mit den Ängsten und Sorgen der Bürger, führt bald zu gewaltsamen Konflikten, menschlichen Tragödien und schweren inneren Konfrontationen.
- In vielen europäischen Staaten kommen in der Folge der Spaltung der Gesellschaft rechte Regierungen ans Ruder.
- Es bricht eine Ära der Zäune innerhalb Europas und an dessen Außengrenzen an.
- Die Macht — und Hilflosigkeit der EU wird allerorts manifest, die Mehrheit der Staaten wendet sich, offen oder verschämt, von der versagenden Institution ab.
Der Bürger hingegen, in Anschauung der Hilflosigkeit der in jahrzehntelangem Wohlstand und Frieden völlig verweichlichten und hilflosen Institutionen, zieht sich zurück. Er wählt rechts oder extrem links, baut, wenn er kann, seine eigenen Zäune aus, weil die öffentlichen versagen. Er bewaffnet sich sogar. Er tritt, wenn irgend möglich, in Steuerstreik, sein Grundvertrauen in Staat, Demokratie und Obrigkeit geht gegen null. Eine gewisse Analogie zur Entwicklung in der Biedermeierzeit wird, bei aller Schärfe der Winde, die Europa umtosen, nicht zu leugnen sein: Rückzug ins Private, Abschottung, Sicherung der eigenen kleinen heilen Welt — wenn schon die große versagt. Die Einzelstaaten, unter dem Schock der Ereignisse und dem steigenden Einfluss rechter Parteien, löcken gegen den immer stumpfer werdenden Stachel aus Brüssel. Die ökonomische Kraft der EU erlahmt, damit auch ihre Attraktivität für weitere Beitrittskandidaten. Man zieht sich auch als Mitgliedsstaat, klammheimlich und verlegen, aus der teuren und wirkungslosen Gemeinschaft ins Individuelle, lokal überblick — und Machbare, zurück.
Was bleibt?
- Eine innere Erneuerung der Union in Richtung Integration ist wegen der Rückbezüglichkeit der Entscheidungsmechanismen mehr denn je ausgeschlossen: Niemand will — erst recht nicht in der Verfassung — Autonomie abgeben.
- Daher wird auch die Ausstattung der EU mit mehr Kompetenz und Macht nicht erfolgen
- Viel mehr als ein lockerer Staatenbund, vergleichbar mit der UNO, ohne Macht, nicht ernst genommen, ein Schatten dessen, was daraus werden hätte sollen, wird wohl nicht übrig bleiben: Ein mehr oder weniger geordneter Rückzug auf der ganzen Linie.
Hätte Europa einen mächtigen Feind: Eine genialere, wirksamere Strategie, als es in kurzer Zeit mit Millionen Zuwanderern zu fluten und damit nachhaltig zu paralysieren, hätte diesem nicht einfallen können. Manche freuen sich schon darüber — und werden es auch ausnützen.