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Klaus Woltron

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Markt, Staat und Münchhausens Zopf

Ein Fußballtor in Peking hat die Abmessungen 7,32 x 2,44 m, so wie in Moskau und Korneuburg auch.

Klaus Woltron

 Es gilt auf öffentlichen Straßen die Rechtsfahr- Regel. Sie wird von tausenden Polizisten gewissenhaft überwacht. Ehern sind hier wie dort auch die Gesetze und Verpflichtungen des GATT, der WTO und der Weltbank. Ganz anders sieht es bei Umwelt — und Sozialstandards aus. Die Menschen in Chabarowsk decken sich gerade mit Trinkwasser ein, weil sich nach einer Explosion in einem chinesischen Chemiewerk auf dem Fluss Songhua ein 80 Kilometer langen Giftteppich gebildet hat. Ein chinesischer oder indonesischer Arbeiter erhält für gleiche Leistung nicht einmal ein Zehntel des Lohnes seines Kollegen in Korneuburg. Bestünden der-artige Unterschiede bei den Regeln im Fußball oder auf den Straßen, wäre des Hauens und Stechens kein Ende. Genauso aber geht es zur Zeit auf dem sich zunehmend globalisierenden Spiel — oder besser: Schlachtfeld der Wirtschaft zu.

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Ungeheure Kapitalmengen bewegen sich, abgekoppelt von den physischen Wertverhältnissen, virtuell um den Erdball und entfalten konkrete Auswirkungen. Sie stürzen Kontinente in Spekulationskrisen und machen Millionen Menschen über Nacht brotlos (Asienkrise 1997). Volkwirtschaften, welche noch vor Kurzem aus Fischern, Mönchen, Handwerkern und Bauern bestanden, werden mit Kapital und High Tech aus-gestattet und konkurrieren mit Industrienationen. Die Gewinne fließen zu den Kapitalbesitzern in den reichen Nationen, zunehmend auch in den jüngst aufstrebenden, zurück. Es entwickelt sich ein in Summe zunehmender materieller Wohlstand, allerdings um den Preis einer wachsenden Diskrepanz zwischen Arm und Reich, massiver ökologischer Probleme in den Schwellenländern, latenter Arbeitslosigkeit in den Industriestaaten und schwerer sozialer Verwerfungen. Die Folgen sind evident und bedürfen keiner gesonderten Aufzählung mehr. Sozialistische Experimente zeitigten in allen Kontinenten noch üblere Resultate: Die unbeabsichtigten Nebenwirkungen waren fataler als jene in Wettbewerbswirtschaften. Darüber hinaus wurden auch noch die materiellen Ziele verfehlt.
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Die Heilsrezepte können allerdings unterschiedlicher nicht sein. Die diversen Lager haben Anhänger, die nahe an fundamentalistischen Gestaden wandeln. Unbärtige Jünglinge, insonderheit wenn sie, sanft gewiegt im Netz staatlich garantierter Beamtengehälter, die Welt im Wesentlichen aus den Berichten Dritter kennen, neigen zu einer recht einfachen Sicht derselben. Dasselbe gilt für Abkömmlinge der dem Artensterben bereits fast völlig zum Opfer gefallenen Spezies der Roten Falken. Beide Repräsentanten neigen zu einer Weltsicht, die von Biologen mit der Perspektive des Plattwurmes (Plathyhelminthes) verglichen wird: Jenem faltenlosen Wesen gebricht es an der Einsicht in die Vieldimensionalität. Exemplare der ersteren Gattung zeigen nicht selten eine kindlich — kritiklose Hingabe an die Heilslehren des Neoliberalismus und andauernden Rückzugs des Staates, begleitet von einem Machtverlust der De-mokratie und ihrer eigenen Wählerstimme. In dieser Frömmigkeit hilft das vom Staate pünktlich überwiesene Gehalt insofern, als man in Ruhe gegen Letzteren polemisieren kann. Die Nachfahren der Roten Falken hingegen schwärmen vom starken Staat, der Rückkehr dickseiliger sozialer Netze und der Errichtung von Barrieren gegen die anbrandenden Wellen der Globalisierung. Keines der alten Rezepte wird mit den grundlegend neuen Problemen fertig werden können. Man hat es mit einer neuen Dimensionalität zu tun, die auch eine andere Komplexität der Antworten und Rezepte verlangt. 

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Die österreichische Schule der Nationalökonomie hat bis heute ihre Faszination nicht verloren. Böhm — Bawerk, Schumpeter, von Mises und Hayek sind geistige Ahnherren der Chicago Boys und der Monetaristen. Dennoch mutet das Bemühen dieser Gründerväter um eine „Wirtschaftsrechnung“, die mathematische Aufarbeitung der Theorie vom Grenznutzen etc. in einer vom idealen homo oeconomicus oder dem genauso idealen homo socialis samt „weisem Staatenlenker“ geprägten Gesellschaft (Zitat v. Mises) heutzutage seltsam blutleer an. Angesichts totaler Marktsättigung in den Industriestaaten, verzweifelter Bemühungen um die Erzeugung immer neuer Nachfrage und der zunehmenden Sorge um die Leistungsfähigkeit der Ökosphäre tun sich heutzutage ganz andere Fragen auf als die von dem damaligen „old boy network“ behandelten Probleme einer von Mangel und schweren Verteilungskämpfen charakterisierten Gesellschaft. Eine treffende Aktualisierung des alten und nun wie-der neu aufgeflammten Streits zwischen Wirtschafts- Dirigisten und Fans der Un-sichtbaren Hand lieferten unlängst die Österreicher Peter Wilhelmer und Franz Kreuzer . Im Zentrum der Auseinandersetzung steht die Frage des Kampfes zwischen Regulativ und freiem Kräftespiel, staatlichem Eingriff und privater Initiative, menschengemachter Ordnung und marktgelenktem scheinbarem Chaos. Insbesondere der Disput zwischen dem Chef der Investkredit AG, Wilfried Stadler, und dem Chefökonomen im Finanzministerium, Josef Christl, sowie Ewald Novotny, dem ehemaligen Vizepräsidenten der Europäischen Investitionsbank und Bernhard Felderer (Direktor des IHS) zeigen die Pole der Diskussion. Während Stadler einer moderat durch staatliche und internationale Rahmenbedingungen gesteuerten Marktwirtschaft, ergänzt durch allgemeingültige soziale und ökologische Normen das Wort redet und für eine Balance zwischen weltweit gültigen Marktregulativen durch eben-solche auf dem Gebiete des Sozialen und der Umwelt eintritt, wirft sich Christl für eine völlige Öffnung aller Schleusen für die Einzelinitiative in die Schranken. Er folgt damit den Thesen Adam Smiths, vergisst aber dabei, dass jener in einer Zeit noch unerodierter moralischer Standards und eines enorm starken Staates wirkte. Ähnliches, in abgemilderter Form, gilt auch für die Ära Schumpeters und Hayeks. Für Friedrich Wieser z.B. „war der Staat eine sittliche Anstalt“. Er müsse das Vertrauen zu sich selbst haben „eher den richtigen Weg zu finden als die wild wachsenden Mächte“ des freien Marktes. Was alle dargestellten Diskussionen aber letztendlich auf eine seltsam rückwärts gewandte und auch rein diagnostische Ebene bannt, ist das Nicht — Einbeziehen vollkommen neuer Komponenten in das sozioökonomische Spiel:

1. Des Paradigmenwechsels von einer Mangel — zur Überflusswirtschaft;
2. des zunehmenden Verlusts von übergeordneten Werten, welche Wirtschaften in einen höheren Zusammenhang setzen;
3. der progressiven Virtualisierung der Wertschöpfung und deren Verlagerung auf rein finanztechnische Operationen.
4. die zunehmende Beeinträchtigung der Ökosphäre
5. die Spannungen zwischen entwickelten und aufstrebenden Sphären des Globus.

Eine aktuelle Berufung auf die Lösungen Böhm — Bawerks, Wiesners, Schumpeters und auch Hayeks hat Ähnlichkeiten mit den Bemühungen eines Computertechnikers, der für einen Systemcrash Hilfe in den Schriften von James Watt oder der Gebrauchsanweisung Henry Fords für die Tin Lizzy sucht.

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Eine brauchbare Denkhilfe in dieser heillosen Vielfalt ist der Begriff der Subsidiarität. Subsidiarität beschreibt ein Ordnungsprinzip im Verhältnis von Staat und Gesell-schaft und besagt, dass der Staat im Verhältnis zur Gesellschaft nicht mehr, aber auch nicht weniger tun soll, als Hilfe zur Selbsthilfe anzubieten. Subsidiarität ist das Prinzip, dass eine größere gesellschaftliche Einheit nur dann zur Erfüllung einer Aufgabe herangezogen werden soll, wenn diese nicht durch die sachnähere Einheit er-füllt werden kann. Legt man das Prinzip der in der Tiefe gestaffelten kontrollierten Freiräume auf unsere Thematik — den Wettstreit zwischen Kollektivismus und Individualismus — um, so löst sich dieser, wie viele scheinbare Widersprüche, in ein ledig-lich graduelles Problem auf:

Es geht nicht um Schwarz oder Weiß, um Liberalismus oder Kollektivismus, son-dern um eine ausgewogene Mitte, den optimalen Grad an Spannung zwischen Ordnung und Freiraum.

Unüberbrückbare Unterschiede zwischen Liberalismus und Sozialismus liegen allerdings im Eigentumsbegriff an den Produktionsmitteln. Alle anderen Parameter, wie staatliche Einflussnahme und Besitz, damit der individuelle Freiraum für den Einzel-nen und dessen wirtschaftliche Aktivitäten, sind in den Demokratien des Westens graduell veränderbar. Im Grad der Regulierung und deren Universalität, was ihre geographische Gültigkeit anlangt, liegt auch der Schlüssel zur Lösung unseres Rätsels.

Dies sei eine erste, grundlegende Antwort an alle Fundamentalisten der erwähnten zwei Lager. Zum Schluss: Das funkelnagelneue Bekenntnis eines neoliberalen Vorkämpfers, der gewiss nicht des Kollektivismus verdächtigt werden kann:

„Auch wenn volkswirtschaftliche Lehrbücher für Studienanfänger Individualismus und dezentrale Märkte predigen, beruhen unsere Sicherheit und unser wirtschaftliches Wohlergehen mindestens ebenso sehr auf kollektiven Entscheidungen mit dem Ziel, Krankheiten zu bekämpfen, eine solide wissenschaftliche Forschung und ein gut ausgebautes Schulwesen zu fördern, notwendige Infrastrukturen bereitzustellen und den Ärmsten der Armen zu helfen“. (Jeffrey Sachs, Das Ende der Armut, Random House, 2005).

Die Unsichtbare Hand kann sich nicht ganz von selbst am Zopf aus dem Schlamm ziehen. Das konnte — angeblich — nur Münchhausen. Offensichtlich glauben ihm manche noch immer.

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