Schubumkehr. Die Krise der Globalisierung
Der Wal verstört den Heringsschwarm durch Einblasen von Luft und heillose Verwirrung. Er selbst behält die Übersicht.
(Gekürzte, überarbeitete Fassung eines Artikels in der NZZ.at vom Dezember 2016)
Wir leben in einer Phase der weltweiten Integration. So zumindest lautet die offizielle Doktrin. Die UNO wacht über die Einhaltung der Menschenrechte, weltweit favorisiert man den Vormarsch der Demokratie, die EU sorgt für den Zusammenhalt ihrer Mitgliedsstaaten, die Globalisierung der Wirtschaftsströme bürgt für enge Verflechtung der Nationen. Daraus soll sich eine immer stärkere Zusammenarbeit, ein Abbau der Gegensätze, eine Förderung des Gemeinsamen, das allgemeine Heil ergeben. Indessen erlebt man ganz anderes: Spaltung, Gegeneinander und Aufruhr. Was als Befriedung begann, mündet in Gegeneinander und Isolation. Wie kam das? Wem nützt es?
Der Wal verstört den Heringsschwarm durch Einblasen von Luft und heillose Verwirrung. Er selbst behält die Übersicht. Vergleichbares widerfährt uns allen, heutzutage. Wir sind zu einer leichten Beute der Kaltblütigen im Hintergrund geworden.
Globalisierung
Handelsbeziehungen bestanden bereits ab dem 3 Jahrtausend v. Chr., wie die Beispiele China und Ägypten zeigen. Die Abhängigkeiten wurden immer komplexer und ausgedehnter, bis mit der Entdeckung Amerikas eine stürmische Entwicklung eintrat: Der Warenaustausch erreichte eine weltweite Dimension. Es dominierten dabei Nationen, welchen es gelang, mit militärischer Gewalt andere zu unterjochen und auszubeuten. Dies änderte sich mit der Unabhängigkeitserklärung der USA und der Emanzipation der Kolonien von den ehemaligen Herren.
Seit Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelten sich Gesellschaften, die ihre Aktivitäten über alle Weltteile hin ausdehnten. Durch den fast kostenlosen Transfer von Wissen, welches in Jahrhunderten entwickelt worden war, hin zu Produktionsstätten in aller Welt, unter Nutzung niedriger Löhne und Umweltstandards, wurden in Europa und den USA große Teile der angestammten Wirtschaftsbereiche obsolet und verschwanden.
Diese Innovation ähnelt jener, die im 19. Jhdt., zu Beginn der Industrialisierung, die Anhäufung sagen-haften Wohlstands in den Händen der ersten Kapitalisten ermöglichte — samt den bekannten Folgen. Ein ganz neues Tor zu gigantischem Gewinn wurde aufgetan- aber nicht nur dazu. Auch die Kollateralschäden sind sehr ähnlich jenen der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, diesmal allerdings mit weltweiten Konsequenzen.
Schubumkehr
Den Internationalisierungsprozess begleitete ein allgemeiner Aufschwung der Weltwirtschaft und eine Rückführung der schnell steigenden Profite in die Ursprungsländer, was einen Ausgleich für das dort verlorene Terrain herbeiführte.
Ab der Jahrtausendwende reicht der Schwung der Gesamtwirtschaft nicht mehr aus, um die Disparitäten in der Wettbewerbsfähigkeit auszugleichen. In Europa und den USA entsteht eine zunehmende Kluft zwischen einer schmalen, gut ausgebildeten Oberschicht und den Verlierern in den alten Branchen. Der Trend kehrt sich um.
Man versucht das durch Intensivierung des sozialen Ausgleichs zu kompensieren- allein, die Leistungskraft des Staates reicht dazu nicht mehr aus. Schulden werden gemacht, um die lokale Wirtschaft an-zukurbeln. Die in den Finanzkreislauf geleiteten Mittel kommen über verschlungene Pfade wiederum der Internationalisierung zugute. In letzter Verzweiflung versucht man, die weltweite Schieflage durch künstliche Vermehrung des Geldes, Umschichtung von Schulden und gleichmäßige Verteilung auf die Bürger abzuladen. Auch diese Verzweiflungsaktionen werden nichts an der Tatsache der totalen Schieflage der Weltwirtschaft, geschuldet der ins Unsinnige und Schädliche getriebenen, unregulierten welt-weiten Arbeitsteilung, ändern.
Die Profiteure
Es gibt, neben der Masse der Verlierer in den alten Ländern auch Gewinner, und dies nicht zu knapp. Sie rekrutieren sich aus der Gruppe der gut Ausgebildeten, geschickten Spekulanten, Kreativen aller Lager, kleinen innovativen Gesellschaften, welche im Sog der Globalisierung an der weltweiten Präsenz teilhaben, etc.
Die wahren Profiteure aber sind die Aktionäre der multinationalen Gesellschaften sowie kluge Spieler im Finanzsystem. Sie haben binnen etwa 50 Jahren gelernt, wie man alle Vorteile einer weltweiten Präsenz für die eigenen Zwecke optimal nutzt.
• Einsatz von Wissen und Kapital ausschließlich dort, wo es den besten Wirkungsgrad erzielt, oh-ne Rücksicht auf soziale und umweltrelevante Faktoren
• Sicherung von Rohstoffen durch Kauf von Gewinnungsrechten weltweit
• Nutzung aller Möglichkeit zur Vermeidung von Steuerleistung
• Keinerlei Entgelt für das dem Ursprungsland entzogene unschätzbare Wissen und Kapital
• Weitere Verlagerung von immer höherwertigen Arbeitsplätzen
• Nivellierung des internationalen Lohnniveaus auf immer niedrigerer Ebene
• Konzentration des Gesamterlöses in immer weniger Händen
• Steigerung der wirtschaftlichen und politischen und Macht in den Händen der Empfänger der Profite
• Beeinflussung der Politik in den Schaltzentralen der Macht.
Dieser Effekt wird durch den Wettbewerb zwischen den großen Spielern noch befeuert.
So wird Globalisierung mehr und mehr zu einem umfassenden Druck — System, um aus dem Potential der gesamten Welt mit möglichst geringem Aufwand und ohne Rücksicht auf die Kollateralschäden ein Maximum an Profit herauszupressen. Im Gegensatz zu früher, da der regionalen Wirtschaft durch fein austarierte Regeln ein Zaum zur Erzielung eines Nutzens für die Öffentlichkeit angelegt wurde, ist dies heutzutage nicht mehr der Fall.
Der Reichtum der Welt, ihre Arbeitskraft und ihre Ressourcen werden in den Dienst von Mächten gestellt, welche sich weitestgehend jeglicher Kontrolle entziehen und den Profit daraus an eine dünne Schicht von anonymen Kapitaleignern abliefern.
Die Wiederholung der sozialen Revolution
Karl Marx’ falscher Schluss
Was früher, zu Zeiten Karl Marx’ und der Hauptmann ’schen Weber, geschah — weitestgehend unkon-trollierte Ausbeutung der Arbeitskraft auf Grund nicht vorhandener Regeln zur Steuerung der Innovati-on „Industrialisierung“ — geschieht heute wiederum in weltweitem Maßstab, auf Grund nicht vorhan-dener gesamthaften Regeln zur Steuerung der „Globalisierung“. Karl Marx freute sich 1848 zu früh, als er schrieb…
„Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut ….“
(KARL MARX, FRIEDRICH ENGELS: Kommunistisches Manifest, 1848, MEW 4: 466.)
Man kann mit gutem Grund die Rolle der damals unkontrollierten Inhaber der Produktionsmittel mit jener der heutzutage ebenso agierenden Multis gleichsetzen: Sie eilten beide der Gesetzeswerdung voraus und untergruben damit das Fundament der Gesellschaft.
Das weltweite Reinheitsgebot und dessen nützliche Idioten
Der tiefere Grund für dieses Ungemach liegt in der polarisierenden Wirkung des allseits verordneten politischen Reinheitsgebotes. Dieses wurde den Führern der westlichen Welt und ihren Adepten so lange suggeriert, bis sie es selbst glaubten und als alleinig selig machende Doktrin verkünden.
1. Schließt Euch alle in möglichst großen Einheiten zusammen.
2. Seid immer und unter allen Umständen solidarisch miteinander.
3. Begleicht wechselseitig eure Schulden (ein EU — Spezifikum).
4. Nehmt unbegrenzt Flüchtlinge aus aller Herren Länder auf.
5. Gehorcht den Oberen in den fernen Zentralen.
6. Verzichtet auf eure lokale Eigenständigkeit.
7. Toleriert die Verlagerung von Arbeitsplätzen an den jeweils kostengünstigsten Ort der Welt.
8. Überlasst den Profit aus dieser Entwicklung den multinationalen Konzernen und -
9. den 25% Gewinnern in eurem Lande.
10. Verlasst Euch darauf, dass sich alles von selbst regeln wird bzw. andere das für euch tun.
Eine solche Struktur lässt sich unter der der Devise „Haltet den Dieb!“ trefflich nutzen, um dieses erstaunliche Treiben ungestört fortsetzen zu können.
Das Paradoxe daran ist, dass die Schafe, für die dieses geniale Schur — System konstruiert ist, sich geradezu unter die Schere drängen. Die, welche die großen Strukturen, die den Dienst an der Schur gewollt oder ungewollt stützen, betreiben damit das Handwerk jener, welche sie scheren und die Benefizien der gewonnenen Wolle genießen. Die Instrumente der Einigung pervertieren damit zu solchen der Spaltung.
Wie das alles ausgeht? Das zeigte die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ganz im Detail.