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Klaus Woltron

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Stürzt Moses über die Zehn Gebote?

Zur Gnade des Immerredendürfens und Nichtsverantwortenmüssens …

Klaus Woltron

Zweierlei hat mich im Sommer 2015 besonders beeindruckt:

- eine Jahrhundert- Dürre und das dadurch verursachte stumme Leiden unzähliger Pflanzen, die lautlos ihre Trauer trugen, als gelbe, braun-rändrige Blätter, und die sich durch Entsagung in einen neuen Frühling hinüberretten konnten.

- Marc Aurel, der tapfere Stoiker; mächtigster Mann der damaligen Welt, und gleichzeitig demütiger Architekt seiner eigenen Seele. Lichtjahre sind wir Heutigen entfernt von der Haltung dieses Mannes, dessen Hauptanliegen es war, seinen Pflichten optimal zu entsprechen, seine eigenen Interessen hintanzustellen und die Last einer ungeheuren Verantwortung gelassen und mit Haltung zu tragen. Einer der ganz seltenen "Starken Männer" mit gleichzeitig hohem Ethos. 

Sowohl die stumme Demut der leidenden Pflanzen und ihre unerschütterliche Zuversicht als auch die so verblüffend ähnliche Seele Marc Aurels haben mir einiges zum Nachdenken aufgegeben. Viel wird geschrieben und gesprochen von business ethics, Moral, Werten, Demokratie und den Fundamenten der Unternehmenskultur.

Es drängt sich hiebei der Verdacht auf, dass da Entzugserscheinungen oder, besser, Mangelsituationen sich ungewollt enthüllen könnten. Das, woran es besonders stark gebricht, ist immer schon ein Hauptthema gewesen. Je älter und ausgetrockneter der Mann, desto zotiger seine Späße. Je schlechter die Bilanzen, umso greller die Öffentlichkeitsarbeit. Ein Vielreden über Anstand, Sitte, Moral und Ethik ist kein Zeichen für eine Besserung in diesen hehren Disziplinen, sondern eher eines für schleichenden Mangel und schlechtes Gewissen. Dabei fällt einem obendrein der gewaltige Viktor Frankl noch ein: "Wenn man von der Lust redet, vergeht sie einem auch schon". Könnte es mit den vieldiskutierten o.a. Themen nicht auch so sein? Dass sie, je mehr man sie beredet, einen umso weniger beseelen? 

Es wird, so nehme ich an, eine kältere Zeit kommen, eine Zeit, in der die Verantwortlichen für Entwicklungen, die niemand heute noch für möglich hält, gesucht werden. Eine Erklärung und eine Argumentationslinie für diesen Fall bereitzuhaben, kann nicht schaden. Vielleicht tritt er, beherzigen wir alles zusammen noch rechtzeitig, auch gar nicht ein? Ich glaube nicht, dass wir ohne gewaltige Prügel lernfähig sind. 

Wir sind Diagnoseriesen und Therapiezwerge, Planungstitanen und Umsetzungsliliputaner. Der Anfangsmut bei vielen Projekten ist ziemlich genau direkt proportional der Endangst. Ganz versteckt und geheim, unsichtbar und meist unbewusst bauen viele in die Startlöcher schon klitzekleine Sicherungen für den vermeintlichen oder wirklichen Problemfall ein. Organisationen werden so konstruiert, dass für den Fall des Erfolgs alle und jenen des Misserfolgs keiner wirklich greifbar ist. Das Ergebnis nüchterner Situationsanalysen wird, kaum soll es umgesetzt werden, wie durch einen Zauber emotional, esoterisch und ungreifbar, es löst sich irgendwie in Unmachbarkeit auf. Die paar verbleibenden Anwälte der Vernunft werden mit dem Argument, dass das zwar schon alles stimme, aber "bei uns" aus vielen, diesen und jenen, Gründen gar nicht funktionieren könne, aus ihrem Tatendrang gerissen. Schaffen sie es trotzdem irgendwie, ihre Pläne umzusetzen, ist die Phalanx jener, die beweisen müssen, dass sie mit ihren Unmöglichkeitsprognosen doch recht gehabt hätten, groß und meist übermächtig.

So passiert es oft und oft, dass gute Einsicht übergeht in halbherzige und zaghafte Umsetzung und dann, entmutigend und für lange Zeit alle Kräfte raubend, im Recht-  Behalten der besserwissenden Skeptiker ein grausliches Ende findet. Einer der Gründe für diese Phänomen ist die tiefsitzende und durch überlautes Anfangskampfgeschrei der österreichischen Politikerschar kaschierte Unsicherheit, das fehlende Vertrauen in die eigene Kraft und die Harmonie des Willens der Mehrheit. Und genau diese Harmonie fehlt ja auch wirklich.

Ein kluger Engländer hat einmal laut darüber nachgedacht, was geschehen wäre, hätte Moses seine Tafeln im Zeitalter der Meinungsvielfalt, des Fernsehens und des ORF- Morgenjournals vom Berge Sinai geholt. Ich versuche, sein Gedankenspiel fortzusetzen. Schon das Aufbrechen auf den Berg wäre von Rätselraten begleitet worden.

  • Moses verfolgt Geheimplan"........ "Erste Indiskretionen über Moses’ neue Pläne- Zinsen abgeschafft?"........ "Kommt Moses jemals wieder?".

Dann, nach Herabbringen der Tafeln:

  • "Moses’ neue Trends enthüllt"........... "Schwere Meinungsverschiedenheiten im Auserwählten Volk über Moses’ Programm"........ "Stürzt Moses über Zehn Gebote?

Die Durchschlagskraft des Moses’schen Programms kann man sich unter diesen Umständen lebhaft vorstellen. So oder ähnlich geht es aber heutzutage zu, wenn Grundsätze diskutiert, Ziele erarbeitet oder Trends interpretiert werden. Die Gefahr der Zunahme jener, die der Gnade des Immerredendürfens und Nichtsverantwortenmüssens teilhaftig werden, steigt gewaltig an. Wenn es jeweils mehrere Parteien gibt, die diametrale Ansichten vertreten, sind diejenigen, die den Willen der Mehrheit dann umsetzen müssen, zum ewigen kritisiert- Werden verdammt. Eine knappe Minderheit kann nachher, wenn das Werk getan- meist nicht perfekt getan- ist, lautstark kritisieren, sie hätte es ja immer schon gewusst, und es hätte ja so kommen müssen, und überhaupt, man habe eben wider bessere Einsicht gehandelt. Schuld sind dann die zur Aktivität Verdammten, die verteufelten Macher, die Tuer. Sie können in einer Zeit der abnehmenden Übereinstimmung, des Verschwindens des Gewissens, des Rückganges der Verantwortung für das Ganze — in Ermangelung eines Bildes desselben- eigentlich nichts mehr "richtig" machen. Was immer sie tun- aus einem bestimmten Blickwinkel ist es falsch, schlecht, hat versagt.

Weit bin ich davon entfernt, demokratischen Prozessen die Berechtigung abzusprechen. Sie können aber nur dann funktionieren, wenn ehrlich und offen und mit gutem Gedächtnis argumentiert wird. Bei uns kommt zu den Mühen des Meinungsdickichtes die Perfidie der Unaufrichtigkeit als erschwerender Faktor hinzu. Wenn nicht die meisten sehr schnell ihre ursprünglichen Positionen vergessen würden, wenn nicht kurzfristiges gewissenloses Taktieren unter Nutzung aller Informationslinien schon ein Kavaliersdelikt wäre, hätte man es viel leichter, eine klare Linie zu fahren. Man ist schon so weit, dass eine Lüge, ein abscheulicher taktischer Dreh mit dem Argument: "Das ist eben Politik" in den moralfreien Raum verschoben und damit entschuldet wird. Dass man damit die höchsten Institutionen unserer Gesellschaft, ja die ganze Demokratie diskreditiert, scheint niemandem aufzufallen.

Beliebte Wege aus diesem Multilemma sind Nichtstun und vorsichtiges Taktieren (siehe oben). Andere Auswege: Flucht, Ausstieg in Schafzucht, in schummrige Bars, weiche Arme verständnisvoller Mätressen, wilde Weltumsegelungen.

Warum eigentlich nicht den Weg Marc Aurels wählen? Den Weg dessen, der wohl wusste, dass er es nicht allen recht machen konnte, und trotzdem seine Linie unbeirrt ging, verantwortlich seinem eigenen Gewissen, seiner mühsam selbst erworbenen Einsicht, mutig und ungebeugt? Natürlich war er da einsam, verunsichert, von Eiseskälte umgeben. Klar, dass er oft auf billigen Beifall, schnellen Gewinn, wohlfeile Freunde- Seilschaften würde man heutzutage sagen- weitgehend verzichten musste. Er hatte allerdings die tiefe Befriedigung, langfristig Recht zu behalten, klare Wege zu richtigen Zielen und nicht trügerische Abkürzungen beschritten zu haben.

Business and political ethics vor 2000 Jahren. In Reinkultur. Viel Nachdenken, mutiges Engagement, Schwimmen gegen den Strom der Opportunisten, Verzicht auf den Beifall der Vielen- das alles blieb ihm nicht erspart. Was, so frage ich, können wir alles noch lernen, von diesem Mann, und den mutigen Pflanzen, die in Zeiten großer Dürre tapfer ihre Blätter opfern, um den nächsten Frühling mit jungen Knospen begrüßen zu können? Irgendwann wird er wieder kommen. 

Kommentare
Dr. Adolf F. Langer am 21.10.2016 um 18:20 Uhr:

Marc Aurel war nict nur Politiker sondern auch Philosoph (d.h. war gebildet) und mußte nicht wiedergewählt werden! Der Wahlpöbel war mit Spielen zufrieden.
Der Großteil unserer "Eliten" ist ohne ihren Parteiapparat nichts.
AFL