Von Nestern ausgeflogener Wahrheiten
Diese Betrachtung verfasse ich im klaren Bewusstsein dessen, dass ich mich selbst von der innewohnenden Kritik nicht ausnehmen kann.
Von Nestern ausgeflogener Wahrheiten
Warum man bei Kehren die eigene Türe nicht vergessen sollte.
Diese Betrachtung verfasse ich im klaren Bewusstsein dessen, dass ich mich selbst von der innewohnenden Kritik nicht ausnehmen kann. Ich tu’s dennoch.
Auf Urgroßvaters Blumenfenster standen im Herbst Gurkengläser, mit Zellophan verschlossen, mit Weichseln, Himbeeren und Marillen gefüllt. Mit geheimen Gewürzmischungen waren sie in Weingeist eingelegt worden. Insgesamt verlieh dies allen Likören einen durchgehenden Eigengeschmack. Lese ich die Morgenzeitungen, so erinnert mich die Monotonie der Meldungen an des Urgroßvaters Liköre: Meist reichen schon die Überschriften, um festzustellen, dass die meisten- Ausnahmen bestätigen die Regel — eine erstaunliche Gleichförmigkeit verbindet. Die Auswahl der Themen ist dieselbe, der Ton der Berichte ähnlich gefärbt, die Kommentare haben den gleichen voreingenommenen Hintergrund. Man könnte meinen, fast alle hätten denselben Chefredakteur. Nur wenige Ausnahmen sind zu finden. Manchmal werde ich angesichts einer offensichtlich manipulierten Meldung im Radio so zornig, dass ich hinspringe und den Aus– Knopf drücke. Es erleichtert, aber man hat die Absicht gemerkt und ist verstimmt.
Das alles erscheint analog zu Uropas Likören: Zeitgeist anstelle des Weingeists, oktroyierte Tendenz als Gewürz, Kirschen und Himbeeren als matschig gewordene Fakten. Der Zeitgeist ist ein strenger Herrscher. Andersdenkende, Ketzer, werden zwar nicht, wie im Mittelalter, mit glühenden Zangen gezwickt und verbrannt; statt des Scheiterhaufens droht ihnen Totgeschwiegen- Werden oder ein Shitstorm.
Die vergewaltigte Realität
Zu allen Zeiten wurden Nachrichten dazu benutzt, eigensüchtige Ziele zu erreichen. In Pompeji und Herculaneum, den vom Vesuv verschütteten Städten, sind noch nach 2000 Jahren vielsagende In-schriften zu sehen. Etliche davon stellen Werbung für Geschäfte, andere politische Botschaften dar. Geschichtsschreiber zeichneten Ereignisse aus ihrer Zeit auf und sammelten Beiträge der Kollegen aus vergangenen Epochen. In vielen Fällen sind diese Überlieferungen frei erfunden. Nicht nur manche Geschichtsforscher verdrehten die Wahrheit. In immer umfassenderem Maße geschieht dies mit Informationen, die durchaus aktuell sind: Man stellt sie absichtlich oder unabsichtlich so dar, dass der Empfänger einen gänzlich falschen Eindruck von dem bekommt, was in Wirklichkeit abläuft.
Wahrheit und andere Rätsel
Über Wahrheit wurde immer schon erbittert gestritten. Eine Vielzahl von Theorien dazu gibt es, von Aristoteles bis Marx, von Kant bis Habermas. Tiefes Grübeln hilft nicht. Man greife auf eine praxistaugliche Definition zurück:
„Wahrheit ist die aus vielen Gesichtspunkten her überprüfbare Schlüssigkeit einer Feststellung“.
Wie Semmeln, Aktien und Autos kann man heutzutage Informationen kaufen: Sie sind zu einem handelbaren Gut mit zahllosen konkurrierenden Anbietern geworden. Botschaften und ihre Färbung beeinflussen die Urteile der Menschen, diese wieder ihre Entscheidungen und Handlungen. Die Herrschaft über Ansichten bedeutet Macht. Deshalb werden immer größere Summen zwecks Manipulation von Fakten auf den Markt geworfen. Die Möglichkeiten, einen Zeitungsbericht, eine Statistik, die Aussagen von Politikern und Wertpapierhändlern, die mild abführende Wirkung eines Milchprodukts auf Übereinstimmung mit den Fakten zu über-prüfen, sind vermittels Google & Co. etwas aussichtsreicher geworden. Nur ein kleiner Teil der Gesellschaft aber hat das Privileg, sich einen breiten Überblick über die Faktenlage zu verschaffen. Es wäre reiner Zufall, dass ihnen daraus die lautere, unverfälschte Wahrheit zuteil würde. Dem großen Rest droht die Manipulation oder das Versinken in geschlossenen Denkgemeinschaften, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Sekten entwickeln. Dass darin eine eklatante Gefahr für die Demokratie lauert, ist evident. Studiert man die Methoden der Wahlwerbung und Beeinflussung der Volksmeinung von Demosthenes über Cäsar und Gutenbergs Revolution bis heute, ist das alles keineswegs neu. Technische Möglichkeiten haben die Beeinflussbarkeit der Menschen freilich enorm verstärkt, was immer stärker ins Gewicht fällt. Das Grund¬vertrauen in Politik und Informationssysteme ist nachhaltig er¬schüttert. Das führt so weit, dass man Interviews und Berichte von einzelnen Volksvertretern und Journalisten nur mehr als Überschrift registriert, weil man deren individuelle Art des Verdrehens längst kennt. (Ich selbst nehme mich, wegen der unvermeidbaren Individualität jeder auch noch so neutral sein wollenden Äußerung, nicht aus. Meine Wirklichkeit aber ist wenigstens nicht absichtlich gefärbt). Man glaubt so gut wie nichts mehr von dem, was berichtet wird. Ein erprobter Rat zum Umgang mit Informationen:
- Ein großer Teil des Erzählten dient dazu, uns zu einer bestimmten Ansicht zu bewegen.
- Viele Botschaften, die übermittelt werden, dienen dem Erwerb von Macht: von jemandem, der meist schwer identifizierbar ist- oder gar nicht sein will oder darf.
- Man glaube erst einmal gar nichts, was berichtet wird. Die Frage sei immer: „Wem nützt es?“ Ohne Cross- und Gegencheck sollte man nichts in sein Erfahrungs– Schatzkästchen einbauen.
Ausgenommen davon sind nur jene Seltenen, die sich über Jahrzehnte als hellsichtig erwiesen haben. Auch jene können sich täuschen. Zurück zum Likör: Manchmal übersah der Uropa ein Loch im Zellophan. Dann verdunstete ein Teil des Weingeistes. Die ganze Mischung wurde sauer und stank.
Der Zeitgeist welkt und wird ersetzt
So, scheints mir, geht es auch dem Zeitgeist. Er überholt sich, wie alles, was lange dauert und durchschaubar wird. Immer offenkundiger liegen die immer gleichen unguten Absichten zu Tage. Deren in die Jahre gekommenen Apostel graben sich durch beharrliches Nachbeten längst überholter Slogans ihr eigenes Grab, wachen über „Nestern längst ausgeflogener Wahrheiten“ (G.Ch. Lichtenberg, 1742- 1799). Sie merken es nicht. Man wird bald sehen, was vom überlebten Zeitgeist übrig bleibt.