Es ist sehr lange her……

Es war  das Alter, in dem die Träume noch mit der Wirklichkeit vermischt sind, daher weiß ich nicht ganz genau, wie viel von dieser Geschichte  erträumt ist und was davon sich wirklich zugetragen hat. In meiner Seele liegt alles aber ganz und gar als wahr aufgespeichert. Und so geht die Geschichte:

Das Nachsommer- Haus

Meine Eltern, mein kleiner Bruder und ich lebten damals, als ich fünf war,  in ei­nem Landhaus, das mein Großvater von dem vielen Geld, das er sich vor dem zweiten Krieg ersparen konnte, gekauft hatte. Es hatte einem Künstler gehört, der es sich als Refugium allerliebst eingerichtet hatte. Über diesem Landhaus lag ein ganz besonderer Zauber. Es war aus rohen Ziegeln sorgfältig errichtet und verfugt, hatte aller­liebste kleine Erkerchen und Eckfenster und war eingesäumt von einer Reihe von Gebäuden aus Holz- einer Garage, einer Holzhütte, einem geräumigen Lagerraum und Stallungen für Hasen und Kleinvieh sowie einem Taubenschlag, der allerdings unbewohnt war. Über all dem lag der Zauber einer Liebe zum Detail, die sich darin äußerte, dass überall, aber ohne Aufdring­lichkeit, Verzierungen, Schmuck und kleine Schnörkel ange­bracht waren. Am Hause waren das kleine Simse und liebevoll gemauerte Balkongeländer, an den hölzernen Gebäuden zart ausgesägte Saumbretter und Firstverzierungen.

Das ganze Anwesen lag in einer feuchten Talsenke und war in einen Garten eingebettet, der gegen die benachbarten Zweck- und Obstgärten der Kleinbauern in einem bedeutenden  Kontrast lag. Während diese Jahr für Jahr die bodenständigen sauren Birnen und kleinen, glänzenden Zigeuneräpfel und Reinetten lieferten, daneben ein bisschen Gemüse, Kraut und Gewürz­kräuter, prangte unser Garten im Frühling mit seltenen Blu­men, fremdländischen  Sträuchern und, wie meine aus dem Bau­ernstand stammende Großmutter immer sagte, unnützen Zier­gehölzen. Besonders schön erschienen mir als Kind die vielen Schneeglöckchen, die wie ein Überrest des Winters im sattgrü­nen kurzen Gras neben dem Bach im Garten, ein weißer dufti­ger Fleck, blühten. Sie stehen heute noch an derselben Stelle. Der Garten aber ist heute nicht mehr verzaubert, sondern einer von vielen und gewöhnlich geworden, im Laufe der vielen Jahre.

Das Gerippe unter dem Bett

Der Platz, auf welchem dieses Landhaus errichtet worden war, vor etwa hundert Jahren, muss von seinem Besitzer besonders lie­bevoll ausgesucht worden sein. Es geht die Überlieferung, dass es ein Maler gewesen sei, der dieses Anwesen errichten ließ, um seinen Lebensabend dort, umgeben von Schönheit und manch zwecklosem Zierrat, zu verbringen. Noch heute spüre ich das Schaudern des Kindes, wenn ich an die Erzählung der  alten Nachbarin von dem Gerippe denke, das man fand, als der kleine feuchte Keller unter dem Haus ausgehoben wurde.  Mein Bett stand über der Falltür jenes Kellers, und wenn es lange regnete und rundum die Bäche  anschwollen, stand das Wasser bis knapp unter den Holzboden und ich hörte in der Nacht, wenn ich wach lag und nachdachte, die Tropfen gluck­sen, hatte Angst und musste an das Gerippe denken, das so lange dort in seinem feuchten Grab gelegen hatte.

Faszination Wasser

So weit ich zurückdenken kann, faszinierte mich das Wasser und alle darin lebenden Wesen. Ich glaube, diese Liebe, ja Lei­denschaft, hat mein Vater in mir geweckt, der ein begeister­ter Fischer und Jäger war. So kam es, dass er mich schon als ganz kleines Kind auf seine verbotenen Fischzüge an die Bäche und kleinen Flüsse unserer engeren Heimat mitnahm und mich früh mit dem Fieber des Aufsuchens der besten Plät­ze, der Kennerschaft für alle Strudel, Kolke und verheißungs­volle Bachbiegungen sowie der Aufregung des Anbeißens und der Lust des Fangens bekannt machte. Noch heute, da meine Augen schon weniger scharf sind, vermag ich die Forelle unter der nickenden Pestwurz zu erahnen, fast ohne sie zu se­hen, und oft schon habe ich Freunde verblüfft, wenn es mir gelang, mit bloßen Händen aus einem Bach eine Rotgetupfte aus ihrem Versteck zu holen, ohne dass man ihrer vorher an­sichtig geworden war.

Die Rotgetupften

Die Bachforellen liebte ich besonders. Das Goldgelb mit den roten und blauen Tupfen, die weiche sanfte Haut und das große Maul mit den scharfen Zähnchen, welche kleine Blutstropfen auf den Kinderfingern hinterließen, faszinierten und lockten mich unsinnig. Es gibt auch heute für mich, der ich schon in vielen Weltgegenden gefischt und getaucht habe und noch immer ein Liebhaber des Wassers bin, keinen schöneren Fisch als die Bachforelle. An einem Sommertag, wahrscheinlich im Jahre 1949 oder 1950, hatte ich ein ganz besonderes Erlebnis mit ei­nem solchen Fisch. Das kam so: Im Ziergarten unseres Landhauses gab es eine Reihe von gefassten Wasserstellen, zu denen jeweils einige Stufen hinun­ter­führten. Diese hatten den Zweck, das umfangreiche Röhren­sy­stem, das den sumpfigen Grund entwässerte, zugänglich zu machen und auch jenen, die großen Gießkannen aus Zinkblech mit den würdigen runden Henkeln füllen zu können, um die Blumenbeete zu gießen. Diese Wasserstellen waren vollkommen klar, wie dunkle ruhige Augen, zum Sommerhimmel aufgeschlagen.

Die Brunnforelle

In einem dieser Brunnen nun wohnte die Brunnforelle. Mein Va­ter hatte sie hineingetan, und wir durften sie mit den Würmern, die beim Umstechen des Gemüsegartens reichlich zutage ka­men, füttern. Sie pflegte sich seitlich in der Einfassung des Brunnens, woher das Wasser aus der Röhre kam, zu verstecken und den Wurm, langsam herausschwimmend, sich drehend und dabei das Blitzen ihrer Punkte und goldgelbe feine Schuppen zeigend, mit sich in ihre Höhle zu schleppen. Sie blieb nur ganz kurz sichtbar. Da ich dieses Schauspiel sehr liebte, wie­derholten wir es oft und daher wurde die Brunnforelle bald groß und fett und immer zutraulicher. Sie schnappte auch nach Steinchen und Hölzern, mit denen wir sie neckten, nahm die­sen Schabernack aber übel und strafte uns dann durch längeres Nichterscheinen.

An jenem Sommertag war ich ganz alleine zu Hause. Meine Eltern und mein Bruder statteten meinen Großeltern, die eine halbe Wegstunde weiter bachabwärts wohnten, einen Besuch ab. Ich durchstreifte den Garten, spielte meine üblichen Spiele und kam aus unerfindlichen Gründen auf die Idee, die Brun­nenforelle zu fangen, wie Kinder eben auf die abstrusesten und unsinnigsten Gedanken kommen. Das Angelzeug des Vaters war bald gefunden, ebenfalls ein fetter rosaroter Wurm gefan­gen und auf den großen rostigen Haken gespießt. Damals kam mir das Leiden des Wurmes noch nicht zu Bewusstsein, wenn er plötzlich steinhart wurde und sich verkrampfte, als das riesi­ge Eisen durch seinen zarten Körper ging und ihn im Innersten traf.

Ich trat vorsichtig an den Brunnen heran und warf die Angel ins klare spiegelnde Wasser. Wie stets kam die Forelle langsam und schön, in einer eleganten Drehung, lautlos aus ihrem Ver­steck hervorgeschwommen, nahm den großen Wurm samt dem Angelhaken ins Maul und schwänzelte in ihre Höhle zurück. Ich spürte den sanften Ruck an der Angel, als sich diese straffte und durch eben diesen Ruck den Haken in das Maul des Fi­sches  trieb.

Der Schock

Ab diesem Zeitpunkt verlief alles ganz anders als sonst, und dieses Geschehen stürzte mich sogleich in tiefste Verwirrung und Angst um den von mir ja geliebten Fisch. Die Brunnforelle begann, zu Tode erschrocken vom plötzlichen Schmerz in ih­rem Maul und dem ungewohnten Zwang, wild in ihrem Revier herumzuschießen, wühlte den sonst so ruhigen Grund ihres Geviertes auf und war bald nicht mehr zu sehen. Nur an dem Rucken der Schnur in meiner Hand war noch zu merken, dass sie überhaupt noch da war. Ein großer Schrecken überkam mich, denn ich wusste nun nicht  mehr, wie es weitergehen sollte. Nach einer Pause der Besinnung beschloss ich, den Fisch herauszuziehen, von der Angel zu befreien und dann wieder seiner gewohnten Behausung zu übergeben. Ich zog den heftig Zappelnden unter großem Herzklopfen aus seinem gewohnten Element, bändigte ihn mit Mühe und trachtete vergebens, den fest im blutigen Maul haftenden Haken zu entfernen. Wäh­rend ich das versuchte, war mir so weh ums Herz, als ob ich meine schöne Forelle ermordet hätte. Ich spürte ihre Schmer­zen und ihre Todesangst genauso stark wie sie selbst, und am liebsten wäre ich auf der Stelle gestorben.  Nach  einer Weile gab ich meine vergeblichen Versuche auf und tat das arme Tier in meiner Verzweiflung in einen der Blechkübel, die um den Brunnen standen. Nach einer Weile des Nachden­kens beschloss ich, den Fisch zu meinem Vater zu bringen, der allein ihn ret­ten würde können.

Das traurige Ende

Mit einem der kleinen Leiterwägelchen, die es damals noch gab- mit hölzernen Rädern und einer langen Stange aus Holz, die das drehbare Vordergestell lenkte, mit einem Holz­griffe am äußersten Ende, mit Eisenreifen um die Räder und deren Na­ben- darin der Kübel, die Angel heraushängend und hin und wieder eine nasse Spur auf der Straße hinterlassend, fuhr ich davon, um die Brunnforelle zu retten. In großer Angst um das Tier im wild schaukelnden und wasserspritzenden Kübel fuhr ich den guten Kilometer bis zum Hause meiner Großeltern, wo ich, erschöpft, aufgeregt und schwitzend, nach einer halben Stunde ankam. Es muss ein wahrhaft seltsamer, jämmerlicher Anblick gewesen sein- der kleine Bub mit dem für ihn sehr großen Wagen, darauf der spritzende Kübel auf der sonnigen, staubigen, einsamen Straße.

Ich wurde mit großer Verwunderung empfangen. Mein Vater nahm sich sogleich des Fisches an, zog ihn aus seinem Behälter hervor, und ich erwartete bange sein Urteil. Allein- der Fisch rührte sich nicht mehr, er war in der Zeit der Fahrt an Sauer­stoffmangel und wohl auch an Blutverlust gestorben. Da entlud sich meine ganze Angst, das schlechte Gewissen und die Trau­er um das wunderschöne Tier in einem herzzerreißenden Wei­nen, das, lange zurückgehalten und schon in Vorahnung des unvermeidbaren Unglücks sich schon angezeigt hatte und nun aus mir hervorbrach.

Am selben Abend wurde der Fisch, brutzelnd und duftend, als Abendessen im Hause meiner Großeltern aufgetragen. Ich aber habe keinen Bissen davon gegessen, und noch lange danach war mir weh ums Herz, wenn ich an dem dunklen ruhigen Wasser vorbeiging, in welchem er so bunt, geheimnisvoll und lautlos gelebt hatte.