Die Jungfrau und der Bulle

Einst schwamm Zeus in der Gestalt eines weißen Stieres, mit der Prinzessin Europa auf dem Rücken, von Phönizien nach Kreta. Die Jungfrau gab dem Kontinent ihren Namen. Geschähe dasselbe heutzutage, wäre der Stier wohl schwarz, und die Fahrt auf dem wilden Mittelmeer sehr gefährlich. Europa ist keine Jungfrau mehr, und nicht nur Zeus ist dafür verantwortlich.

Die Zahl der Bruchlinien in der europäischen Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten sprunghaft vermehrt. Nicht nur zwischen unterschiedlichen Ethnien und Religionen tun sich tiefe Klüfte auf – auch innerhalb einst homogener gesellschaftlicher Gruppen zerbrechen alte Traditionen. Automatisierung, das Internet, Künstliche Intelligenz, Robotik und die Neuen Medien revolutionieren jede Ebene der Allgemeinheit. Es entsteht ein Bruchsand aus einst festem kulturellem, gesellschaftlichem Gestein: Europa verglüht nach innen.  Was steht Europa bevor?

Religionen und ethnische Konflikte

Ethnische Vielfalt in Europa

Die Geschichte ethnischer und religiöser Konflikte in Europa reicht Jahrtausende zurück. Sie ist geprägt von Spannungen, die oft in Gewalt mündeten. Über viele Jahrhunderte hinweg dominierte das Christentum und bildete ein einigendes Band. Dieses Verbindende nahm seit der Aufklärung stetig ab und mündet derzeit in einer immer kraftloser werdenden Vielzahl von Religionslosen und Sekten.  Die Kraft, sich gegen äußere Bedrohungen zu wehren und gemeinsam ungeahnte kulturelle und wirtschaftliche Höchstleistungen zu erbringen, blieb bis weit ins 20. Jahrhundert ungebrochen. Dies nähert sich nun seinem Ende. Die Anzahl bekennender Christen schrumpft drastisch, jene der Muslime steigt.  Extremistische  Bewegungen und Probleme der Integration muslimischer Gemeinschaften stören das Zusammenleben.

Soziale Emanzipation

Die Spannungen zwischen Herren und Knechten nahmen mit steigender Bevölkerungszahl der Entwicklung der Technologie zu und mündeten in Revolutionen. Der Durchbruch gesellschaftlicher Reformen erfolgte sodann in rascher Folge. Mittlerweile hat sich der einst faire soziale Ausgleich negativ entwickelt: Immer weniger Menschen tragen immer mehr Lasten. Die Waage der„Work- Life- Balance“neigt sich in Richtung Drückebergerei. Indessen häufen einige wenige ungeheuren Reichtum an.

Revolution

Männer, Frauen und das Dazwischen

Die traditionellen Bilder von Mann und Frau haben sich grundsätzlich gewandelt. Nach einer Phase positiver Emanzipation klingt im öffentlichen Diskurs eine gewisse Ruppigkeit, ja Feindschaft, durch. Das bis vor Kurzem (in Österreich bis 1971 verbotene) öffentliche Auftreten von Homosexuellen und die aus den USA importierte LGBTQIA-Bewegung Führen zu weiterer Spaltung und versteckten Feindseligkeiten.

Kluft zwischen Jung und alt

Die Vermittlung erprobter gemeinsamer Werte entgleitet den Eltern. Die Prägung nachwachsender Generationen erfolgt immer stärker durch anonyme, verschiedenartige Medien und konträre Ideologien und Religionen. Dieses ungeregelte Durcheinander hinterlässt orientierungslose, verstörte Gemüter. Im Verein mit der allgemeinen Erosion von Autoritäten entsteht so eine nie da gewesene Kluft zwischen Jung und Alt.

Sprachlosigkeit

Krise an den Schulen

Immer öfter erreichen uns Nachrichten von Gewalttaten an Schulen. Die Lehrer resignieren unter dem Druck stets neuer Vorschriften, der Ohnmacht, sich wirkungsvoll im mehrsprachigen Schulalltag durchzusetzen, und einer Elternschaft, welche die Erziehung ihrer Sprösslinge an die Pädagogen delegiert. Man erwartet, die Kinder würden dort zu Genies heranreifen-in den meisten Fällen eine trügerische Hoffnung. Die Enttäuschung darüber wird an den Schulen abreagiert, welche den Nachwuchs nicht „ausreichend begaben“.

Schwächung von innen

All diese Brüche führen dazu, dass die Gesellschaften in Europa von innen her gelähmt werden. Die latente Krise der EU zeigt, dass diese unfähig ist, sich zu erneuern. Die selbsthemmende Verfassung, das verborgene Regime einer politisch kopflastigen Richterschaft und großteils drittklassiges Personal verhindern eine Anpassung an die geänderten Verhältnisse, geschweige denn eine proaktive Gestion.

EU- Erneuerung: Ein Widerspruch in sich selbst

Aufstieg, Verfall und Wiedergeburt des Neuen

Man versucht, sich durch Herbeireden von Bedrohungen von Außen und Bewaffnung auf Pump diesem Multiorganversagen entziehen.  Wie konnte es soweit kommen, mit dem Abendland?

Die europäische Kultur entstand in Jahrtausenden durch Einschmelzung  unterschiedlicher Völkerschaften. Dieser Prozess ist unverändert im Gange. Was sich daraus ergeben wird, liegt im Nebel der Zukunft. Sicher ist, dass sehr vieles vom Alten die neu auftauchenden Kräfte nicht überleben wird.

Wandel und Neubeginn

Wandel und Neubeginn

Die Menschen in Europa haben sich nach zahllosen Krisen in immer neuen Lagen wiedergefunden, zu denen sie wenig mit Absicht beigetragen hatten: Sie wurden von der Vielfalt des Geschehens überrollt. Dieser Prozess hat kein Ende. Der Nährboden für Neues regeneriert sich stetig durch Tod, Zerfall und Auflösung. Durch den Zersetzung absterbender Strukturen wird die Nahrung für folgende, oft ganz anders geartete Systeme vorbereitet. Gerd Binnig  beschrieb das Neue als Verknüpfung bereits bekannter Einzelteile, das sodann in der Realität Bestand hat. (Aus dem Nichts; Über die Kreativität von Mensch und Natur 2., Aufl. 1997). 

Der aktuell ablaufende Prozess in Europa- eine Art stetige Kompostierung überkommener Strukturen- bildet ein Substrat, auf dem völlig neue Gewächse austreiben. Was sich dort treffen wird, wer den Samen zum Neuen sät- das liegt im Nebel einer ungewissen Zukunft. Der Humus ist bei Weitem nicht gereift, und die Würmer haben ihn nicht verlassen. Sie werden es auch niemals tun.